Koblenz - Sie nennen sich Willy, Wurstscheibe oder Armleuchter – und debattieren wie wild über die Bluttat von Koblenz-Horchheim. Täglich, seit Monaten, in epischer Länge. Sie kommentieren jede Neuigkeit zum Doppelmordprozess, haben seit März 2012 fast 25 000 Diskussionsbeiträge veröffentlicht, im Schnitt gut 55 pro Tag. Warum?
Ihr Treffpunkt nennt sich „Allmystery: Antworten auf die Rätsel dieser Welt", eines der größten deutschen Internetforen, ein Paradies für anonyme Hobbyermittler. Der Doppelmordprozess am Landgericht Koblenz sorgt seit Monaten für Aufsehen. Vor allem weil die Angeklagte Henrike Schemmer (46) laut Staatsanwaltschaft eiskalt tötete, weil sie mit beiden Opfern verwandt war, dreifache Mutter ist und die Tat im Polizeiverhör bestritt.
Sie fuhr laut Anklage am 7. Juli 2011 von ihrem Wohnort Haren (Niedersachsen) 350 Kilometer nach Koblenz, drang ins Haus ihrer Schwiegereltern Waltraud (68) und Heinrich (75) Schemmer ein – und erstach beide.
Wer sich für die Koblenzer Bluttat interessiert, landet schnell bei Allmystery. Und manche kommen nicht mehr los. „Sensibella", Familienmutter (40) aus Ludwigshafen, kannte weder die Opfer, noch kennt sie die Angeklagte. Aber sie schrieb seit September 2012 gut 1550 Diskussionsbeiträge, im Schnitt sechs Stück täglich. „Der Fall hat mich einfach gefesselt", erklärt sie am Telefon.
Mutter debattierte rund um die Uhr
Alles begann 2012: Die 40-Jährige guckte „Aktenzeichen XY", hörte vom Tod der Eheleute und wollte mehr wissen. Seither war sie fast rund um die Uhr bei „Allmy". Sie las fremde Beiträge, verfasste eigene, vor dem Frühstück, in der Mittagspause, abends nach der Arbeit. Sie analysierte den Prozess, rekonstruierte mögliche Tatabläufe, stritt über DNA-Spuren. Bis ihr Mann sich beschwerte, bis ihre Gesundheit rebellierte.
„Heute setze ich andere Schwerpunkte im Leben", sagt sie. „Ich lese zwar alle Beiträge, schreibe aber weniger."
Das Allmystery-Forum hat seinen Sitz in Südkorea. Sein Gründer, der Berliner Dennis Kort (29), ist dorthin ausgewandert – der Liebe wegen. Das Forum, das für jeden einsehbar ist, hat insgesamt 75.500 registrierte Nutzer und bald zehn Millionen Beiträge. Besonders beliebte Diskussionen heißen „Smalltalk" (gut 275.000 Beiträge) oder „Was du schon immer schreiben wolltest, aber niemanden interessiert!" (gut 155.000 Beiträge).
Diskutanten beschimpften sich
Die Teilnehmer an der Debatte zur Koblenzer Bluttat verbindet ein fast zwanghaftes Interesse an dem Verbrechen. „Jungler" wohnt in Tatortnähe und war an fast jedem Prozesstag im Gerichtssaal. Die 56-Jährige schrieb im Forum mehr als 1150 Beiträge, selbst aus dem Mallorca-Urlaub. „Almera" (48) ist erst seit Februar dabei, seither schrieb sie 182 Beiträge. Sie wohnt in Horchheim, verfolgt täglich die Diskussion: „Dieses Verbrechen geht mir so nah, weil es im eigenen Stadtteil passiert ist. So etwas hätte ich mir bei uns nie vorstellen können."
Die 87 Teilnehmer an der aktuellen Diskussion „Doppelmord in KO-Horchheim" kennen sich meist nur aus dem Netz, wohnen teils Hunderte Kilometer auseinander. Dennoch zeigen sie eine Art Wir-Gefühl. Etwa wenn „Schängelche" fragt, wer zum nächsten Prozesstag geht, denn „es wäre schade, wenn wir nächste Woche keine Infos aus erster Hand bekämen".
Oder wenn „Arwen1976" kurz nach Mitternacht wünscht: „Schlaft alle gut." Und: „Ich freue mich, wenn wir alle morgen weiter diskutieren können."Aber so viel Harmonie ist selten. Im Januar schloss ein völlig genervter Moderator die erste große Debatte zur Bluttat. Begründung: „So, ich denke das war's mit ,diskutieren' bis zum Ende der Verhandlung. Oder für immer, je nachdem ob die Verwaltung Lust hat, sich diesen Mist hier weiter anzutun."
Zuvor hatten sich die Diskutanten immer wieder persönlich attackiert. „Sensibella" erinnert sich: „Es standen sich zwei Gruppen gegenüber. Die eine hielt die Angeklagte für schuldig – vermutlich schon vor der Tat. Die andere hielt die Angeklagte für unschuldig – vermutlich selbst wenn sie alles gestanden hätte." Der Doppelmordprozess geht morgen weiter.
Von unserem Redakteur Hartmut Wagner