Koblenz/Brüssel - Wie konnte es geschehen, dass Wilhelm Hubertus Mühr aus heiterem Himmel verschwand und in einem Brüsseler Vorort im Beisein von Polizisten starb? Die Familie fordert Aufklärung - und fühlt sich von den Behörden hingehalten.
Wie konnte es geschehen, dass Wilhelm Hubertus Mühr aus heiterem Himmel verschwand und in einem Brüsseler Vorort im Beisein von Polizisten starb? Wie gelangte Wilbert, wie sich der 79-Jährige lieber nennen ließ, in die belgische Hauptstadt? Wo hielt er sich zwei Tage lang auf? Und welche Rolle spielt die belgische Polizei bei alldem? Quälend nagt die Ungewissheit über die Todesumstände des Ehemanns, Vaters und Großvaters an den Angehörigen, die nach Antworten suchen. Die Familie fordert Aufklärung - und fühlt sich von den Behörden hingehalten.
Was geschehen sein könnte
"Wir möchten niemanden beschuldigen, niemanden anklagen. Wir möchten nur wissen, was geschehen ist", sagt Wilbert Mührs Tochter Andrea Steinborn. Gemeinsam mit ihrer Mutter Cornelia, ihren Brüdern Stefan und Markus sowie Markus’ Ehefrau Nicole sitzt sie im Koblenzer Wohnzimmer der Familie. Sie reden über das, was geschehen ist - und was geschehen sein könnte. Das Haus war in den vergangenen Wochen die Schaltzentrale. Von hier aus tat die Familie alles, um den als vermisst geltenden Vater zu finden. Erst Tage später stellte sich heraus, dass Mühr längst tot war, als die Familie noch Hoffnung hatte.
Die Söhne Stefan und Markus leben mit ihren Familien nahe Köln. Die Eltern sind vor wenigen Jahren nach Koblenz gezogen, wo Tochter Andrea mit ihrer Familie wohnt. Die RZ trifft eine Familie in tiefer Trauer, die jedoch bemerkenswert gefasst und vollkommen sachlich über das spricht, was sie herausgefunden hat - vor allem aber über das, was bislang nicht herauszufinden war.
Deutlich wird: Rund um das Verschwinden und den Tod Wilbert Mührs liegen die entscheidenden Fakten noch immer im Dunkeln. Mühr - im kölschen Karneval als Wib bekannt und engagiert - war am 5. November zu einem Treffen mit seinem Sohn Markus und dessen Frau Nicole sowie einem abendlichen Stammtisch nach Köln gefahren. Nachdem er sich um 20 Uhr von seinen Freunden in einem Brauhaus am Rudolfplatz verabschiedet hatte, verlor sich seine Spur am Heumarkt, wo er zuletzt in einer Straßenbahn von einer Videokamera aufgenommen wurde. Erst am 20. November erfährt die Familie: Mühr ist tot, gestorben bereits am 7. November im Zuge einer Festnahme in der Stadt Halle südwestlich von Brüssel. Mühr war in Handschellen abgeführt worden. In einem Aufzug des Bahnhofs sackte er zusammen und war sofort tot.
Seitdem sind es vor allem zwei Fragen, die die Angehörigen beschäftigen: Was geschah mit Wilbert Mühr von seinem Verschwinden in Köln bis zu seinem mysteriösen Tod im belgischen Halle? Und: Wieso dauerte es danach so lange, bis sie über seinen Tod informiert wurden? Während sie die zweite Frage inzwischen einigermaßen nachvollziehbar beantworten können (siehe Text unten), ist bei der ersten Frage noch vieles unklar. Von den belgischen Behörden erhalten die Mührs keinerlei Informationen, berichten sie.
Wann war Mühr bei der Polizei?
Sicher ist offenbar nur: Wilbert Mühr war irgendwann in dieser Zeit auf einer Polizeiwache in Brüssel, um zu melden, dass ihm sein Portemonnaie mit Bargeld und wichtigen Papieren gestohlen wurde. Bei der Polizei hat er nämlich ein Dokument über den Diebstahl oder den Verlust seines Ausweises erhalten, das er später, zum Zeitpunkt seines Todes, noch bei sich führte. Wann genau er dieses erhalten hat, wie lange er überhaupt bei der Polizei war - das konnte die Familie noch nicht herausfinden. Möglicherweise, so lautet eine Hypothese der Angehörigen, war er ja tatsächlich die vollen zwei Tage in Obhut der Polizei, vielleicht, weil er auf der Bahnfahrt von Köln bis Brüssel ohne Fahrschein unterwegs war und erwischt wurde, vielleicht, weil er deshalb festgenommen worden war. Dies würde zumindest erklären, wo sich Mühr aufhielt, der zwischen dem 5. und dem 7. November irgendwie bis Brüssel gelangt sein muss, jedoch zu keinem Zeitpunkt ein Lebenszeichen nach Koblenz sandte.
Das Verfahren führt die königliche Staatsanwaltschaft ("procureur du roi") in Brüssel, die gegenüber der RZ keine weiteren Angaben macht. Die Koblenzer/Kölner Familie hat inzwischen auch zur Koblenzer Staatsanwaltschaft Kontakt aufgenommen, jedoch ohne konkretes Ergebnis. Die Staatsanwaltschaft hat, wie sie der RZ bestätigte, kürzlich ein Auskunftsersuchen an die belgischen Behörden gerichtet - eine "reine Routineangelegenheit", wie Oberstaatsanwalt Rolf Wissen erklärt: "Sobald wir von Todesfällen eines Deutschen im Ausland erfahren, fordern wir deshalb im Rechtshilfeweg grundsätzlich Auskünfte der ausländischen Kollegen zur Todesursache an."
Die Hinterbliebenen wissen nicht, in welchem Zustand sich Wilbert Mühr in Belgien befand. Er litt an Diabetes, spritzte sich regelmäßig Insulin, hatte auch zwei Spritzen bei sich, als er am 5. November das Haus in Koblenz verließ und sich von seiner Frau zum Bahnhof fahren ließ. Ob und wann er die Spritzen verloren hat oder ob sie ihm gestohlen wurden? Das ist ebenso unklar wie der Verbleib seiner Papiere und seiner Geldbörse. Als er das Brauhaus in Köln verließ, hatte er sich nämlich zwar ein falsches Sakko gegriffen, seine Unterlagen hatte er jedoch in seiner Hosentasche sowie in einer Regenjacke, die er mitnahm (in seinem Sakko war nur die Rückfahrkarte). Wenn er also in Brüssel ohne Papiere und Geld ankam, so müssen ihm diese nach dem Abschied aus dem Brauhaus abhanden gekommen sein.
Alle Hebel in Bewegung gesetzt
In den Tagen nach dem Verschwinden hatten die Söhne Markus und Stefan, die Tochter Andrea und die Ehefrau Cornelia alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Familienoberhaupt zu finden: Bahnhöfe in der Kölner Umgebung wurden abgesucht, Menschen befragt, Spuren gesammelt. Inzwischen können sie nichts mehr tun - außer auf Antworten warten.
Die Familie hat eine lange Mail an "Komitee P" geschickt, den ständigen Kontrollausschuss der Polizeidienste in Belgien, in der sie alle offenen Fragen stellt. Sie hat keine Antwort erhalten, "noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung". Und so bleibt den Angehörigen nur die Ungewissheit: "Wir wissen noch nicht einmal die genaue Todesursache."
Tim Kosmetschke
Warum es 13 Tage dauerte, bis die Familie von Wilbert Mührs Tod erfuhr
Als die Koblenzer Polizei am 8. November eine Vermisstenmeldung zu Wilbert Mühr veröffentlichte, war er bereits seit einem Tag tot. Und doch dauerte es noch bis zum 20. November, bis die traurige Nachricht auch bei der Familie ankam. Was die Mührs als Erklärung dafür herausfinden konnten und nun wiedergeben, zeichnet das Bild einer Geschichte von Schlamperei, Behördenwirrwarr und Desinteresse. Zunächst hatte demnach weder die Polizeidienststelle, die den Vorfall untersuchte, noch die Staatsanwaltschaft ein Interesse, die Identität des toten Deutschen ohne Papiere zu klären. Auf dem Dokument, das er bei der Polizei erhalten hatte und das er zum Zeitpunkt des Todes bei sich trug, stand sein Name wohl falsch geschrieben ("Mürh"). Ein Kalender, der bei seinen Sachen gefunden wurde und in dem sein Name sowie die Adressen der Angehörigen stehen, wurde nicht beachtet. Nach der Obduktion kam Mührs Leichnam zu einem Bestatter in Lembeek, wo erst einmal nichts mehr passierte. Als der Bestatter den Leichnam später einäschern wollte, fragte er den Gepflogenheiten gemäß beim örtlichen Bürgermeisteramt nach der Kostenübernahme. Erst ein dort beschäftigter Standesbeamter machte sich die Mühe und recherchierte im Internet, um wen es sich handeln könnte. Er stieß auf die Vermisstenmeldung aus Deutschland und informierte am 15. November die Botschaft in Brüssel - an einem Freitag. Dort blieb die Sache bis Montag liegen, erst dann ging eine Anfrage über das LKA zur Polizei Koblenz. Diese überprüfte nochmals die Beweislage - und informierte dann mittwochs die Familie sowie per Pressemitteilung die Öffentlichkeit. Mührs Tochter Andrea Steinborn ist fassungslos: "Wenn der belgische Standesbeamte nicht geschaltet hätte, wäre mein Vater vielleicht in Lembeek eingeäschert worden, ohne dass wir jemals erfahren hätten, was mit ihm geschehen ist." Am 28. November wurden Wilbert Mührs sterbliche Überreste nach Deutschland überführt. Am 10. Dezember fand die Trauerfeier in Köln-Dellbrück mit anschließender Beerdigung statt. tim